Paul Alexander (Meppen)Paul Alexander wurde 1922 als einziger Sohn der Eheleute Paula und Julius Alexander in Meppen geboren. Was er am 10. November 1938 in seiner Heimatstadt erleben musste, hat er 1949 dem Landgericht Osnabrück geschildert:
„In den frühen Morgenstunden des 10. November wurden wir durch Klirren von Fensterscheiben und lautes Rufen „Juden heraus“ geweckt. […] Ich habe die Tür geöffnet, […]. Sofort kam ein Polizist in mein Zimmer und befahl mir, mich anzuziehen. […] Auf der Straße wurde ich einigen SA-Männern übergeben und hörte meine Mutter weinen und rufen: „Geben Sie mir den Jungen zurück!“ Ich war damals 16 Jahre alt. Unter Schlägen und Fußtritten wurde ich durch die Stadt getrieben, über die Hubbrücke bis zum SA-Haus in der Herzogstraße. Dort wurde ich die Treppe hinuntergestoßen und landete in einem kleinen Keller. Kurz darauf wurde auch Ernst Cohen die Treppe hinabgeworfen. Wir mussten auf allen Vieren im Keller herumkriechen und wurden von mehreren SA-Männern mit Flaschen und Knüppeln geschlagen. Wir mussten durch die Scherben kriechen. Wir bluteten. Später wurden auch mein Vater, meine Onkel Ludwig und Max Alexander, Dagobert Cohen, Max Fiebelmann, sein Sohn Adolf und Dr. Sternberg aus Haren die Treppe hinuntergestoßen. Nach einigen Stunden, in denen wir geschlagen wurden, befahl man uns, im Garten Löcher auszugraben. Mein Vater, der von einer Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg eine verkrüppelte Hand hatte, musste Äste von den Bäumen sägen und dabei singen: „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab…“ Wir wurden gezwungen, uns in die ausgeworfenen Gruben zu stellen und wurden von SA-Leuten mit Pistolen bedroht. Später wurden wir in das Gerichtsgefängnis nach Lingen und dann ins KZ Sachsenhausen transportiert.“ Nach sechs Wochen KZ wurde Paul Alexander entlassen und musste Zwangsarbeit auf dem Ulmenhof bei Meppen verrichten. Im Juli 1939 erhielt er die Nachricht, dass er mit einem Kindertransport nach England auswandern dürfe. In Windeseile musste er sich von seiner Familie verabschieden. Es war ein Abschied für immer, denn Pauls Eltern wurden 1941 nach Riga verschleppt und dort ermordet. Paul Alexander lebt heute in England. (Erna de Vries 2015) |
Erna de Vries (Lathen)„Ich möchte nicht, dass es vergessen wird. Denn es ist ja nicht allein meine Geschichte, sondern eine, die hunderttausendmal passiert ist- das Wegschleppen von zu Haus, das Einliefern ins Lager, Prügel, Hunger und Tod…nur dass ich überleben durfte.“
Erna de Vries hat es ihrer Mutter beim Abschied 1943 im Lager Auschwitz-Birkenau versprochen. „Du wirst überleben und dann wirst du erzählen, was sie mit uns gemacht haben.“ Und sie hält sich an ihr Versprechen und berichtet bis heute in Schulen und Bildungseinrichtungen von ihrer Geschichte. Sie hat ein Buch geschrieben „Der Auftrag meiner Mutter“ und etliche Interviews gegeben. Eines ist unter www.zeitlupe.de im Internet zu finden. Die Gemeinde Lathen ehrte sie für ihren Einsatz mit der Ehrenbürgerschaft und die Bundesrepublik Deutschland verlieh ihr die Verdienstmedaille des Bundesverdienstkreuzes. Erna de Vries wurde am 21. Oktober 1923 in Kaiserslautern als einziges Kind von Jeanette und Jacob Korn geboren. Ihr Vater war Protestant, ihre Mutter Jüdin. Beide beschlossen, ihre Tochter im jüdischen Glauben zu erziehen. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erlebte auch Erna de Vries die schrittweise zunehmende Diskriminierung und Verfolgung. Der durch Boykottmaßnahmen erzwungene Ruin des elterlichen Betriebes, der aus finanziellen Gründen unabwendbare Abgang von der Privatschule, die Verwüstung der elterlichen Wohnung in der Pogromnacht markieren einige wichtige Schritte auf diesem Weg. Als im Juli 1943 ihre Mutter, Jeanette Korn, abgeholt wurde, bestand die Tochter darauf, ihre Mutter zunächst ins Gestapo-Gefängnis nach Saarbrücken, dann ins KZ Auschwitz-Birkenau zu begleiten. „Ich wollte bei meiner Mutter sein“. Die beiden Frauen wurden zur Zwangsarbeit im Außenlager Harmense in der Fischzucht eingeteilt. Durch das tägliche Arbeiten im Wasser und die extrem schlechten hygienischen Bedingungen zog sich Erna eine eitrige Bindegewebsentzündung am Bein zu, die nicht verheilte. Darum wurde sie am 15. September 1943 bei einer Selektion ausgewählt und in den Todesblock 25 verlegt. Alle dort inhaftierten Frauen wussten, was ihnen bevorstand: der Tod durch Vergasen. Während die ersten Frauen auf die LKWs zum Abtransport getrieben wurden, kniete Erna de Vries auf der Erde des Innenhofs. „Ich wollte die Sonne noch einmal sehen. Und ich habe die Sonne gesehen und das war mir ein Trost. Ich war keinen Moment verzweifelt.“ In einem Gespräch sagte sie später: „Im Lager habe ich das Beten gelernt.“ Und auch dort, im Innenhof des Todesblocks, betete sie: „Lieber Gott, ich möchte leben, aber wie du willst.“ Erna de Vries überlebte Ausschwitz. Ein SS-Mann holte sie in letzter Minute aus der Gruppe der Inhaftierten heraus. Da sie als sogenannter jüdischer Mischling ersten Grades galt, wurde sie in das KZ Ravensbrück bei Berlin gebracht. Kurz davor gelang es ihr noch, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Jeanette Korn wurde am 8. November 1943 in Auschwitz ermordet. In Ravensbrück musste Erna de Vries z.T. schwere körperliche Arbeit leisten. Später wurde sie zur Zwangsarbeit im dazugehörigen Siemenslager verpflichtet. Das KZ wurde im April 1945 geräumt. Erna de Vries überstand den Todesmarsch bis Mecklenburg. Dort wurde ihr Treck von alliierten Soldaten befreit und sie konnte zunächst bei einer Bauernfamilie unterkommen. Von dort ging sie nach dem Ende des Krieges nach Köln, wo sie bei Verwandten lebte. Schon bald lernte sie in Köln den 15 Jahre älteren emsländischen Juden Josef de Vries kennen, den sie 1947 heiratete. Auch Josef de Vries war in Auschwitz-Birkenau gewesen und hatte seine Familie verloren. Mit ihm ging sie in seinen Heimartort Lathen, in dem sie auch heute noch lebt. |